Tage wie Türkis – #24Autoren mit Jennifer Hilgert

von | 08.12.2017 | 0 Kommentare

Achtzehn Jahre Ballast stecken in den Tagebuchseiten, die eine Sekretärin mit ihrer verkorksten Vergangenheit konfrontieren. Was das Gefühl von Glücklichsein in den Momenten macht, in denen man es am allerwenigsten ist, erfährt sie ab dem Augenblick, als sie beginnt darüber nachzudenken. Unverhofft erhält sie die Gelegenheit ihre Geschichte zu bearbeiten und ihre Zukunft zu verändern.

Tage wie Türkis

“Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass genau diese Gedanken dir im Weg stehen, Amy? Dass genau diese Gedankengespinste der Grund dafür sind, warum du nicht glücklich werden kannst! Weil du dein Leben in Zahlen und materiellen Gütern misst.

Tage wie Türkis tragen Pudelmützen und trinken heiße Schokoladen zum Kaffee, mit Sahne und ohne, mit Marshmallows und Kakaobohne. Süßer Mäusespeck, der langsam an der Oberfläche zerfließt wie Wachs an Kerzendochten. Tage wie Türkis krakeln mit abgebrochenen Holzfarben und knalligen Wachsmalstiften in Malbücher undhören Jazz. Oder Rap. Dabei swingen sie im Leben. Sie duften nach frischen Orangen und überreifen Limonen, schmecken nach klebrigen Honiglakritzen und schreiben lustige Reime in Poesiealben. Sie hinterlassen Lebensweisheiten in noch unbeschriebenen Notizbüchern. Sie kleistern Sprüche an Klotüren und kleben Sticker an Straßenlaternen. Und sie mögen Zimtsterne. An Weihnachten und auch an Ostern. Und Kirschkerzen und Kaugummis. Vor allem Kaugummis. Kugeln, Streifen, Drops und Schlangen. In rotes Stanniolpapier eingewickelt und nackt. In Kaugummiautomaten getürmt, in Gläsern aufbewahrt. Überhaupt sind Tage wie Türkis immer auch ein Stück weit mit Zitronenzucker überzogen. Sie schlecken Karamell von langen Stielöffeln und rühren Milchschaum in Schwarztees aus Lieblingstassen, die dampfend Himbeergeschmack ausatmen. Sie gießen Sahne in Karaffen und schlagen noch mehr für Blueberryscones. Sie piddeln die Butterstreusel von Apfelblechkuchen und mischen Lebensmittelfarbe in griechischen Joghurt, bemalen ihre Nasenspitzen für eine bessere Welt und schlecken sie genüsslich ab. Sie naschen Seetangsalat aus Holzschüsseln und pellen Mangogummis aus gelben Knisterpapieren. Sie kratzen Parmesancracker von Schieferplatten und falten Namensschilder aus Seidenpapier. Vielleicht.
Vielleicht tragen sie auch dunkle Basketballkappen und verlieren gerade einen Wackelzahn oder haben nicht mehr viele davon im Mund. Möglicherweise liegen sie in Parkanlagen unter Trauerweiden an Ententeichen oder auf Parkbänken voller Eichhörnchennester, eingedeckt in der Tageszeitung von heute, mit den Tagesthemen von morgen, mit Schnee von gestern. Vielleicht haben sie einen TetraPak Chardonnayan ihrem Schlafsackende stehen und eine Fischercordmütze übrig von der See, mit der sie vor den Vorbeiziehenden salutieren, die bis oben hin zugeknöpft unterwegs zu ihren Altbauwohnungen in Szeneviertel sind. Vielleicht winkt einer der Beanzugten freundlich, hebt gütig die Hand zum Luftkuss, grüßt mit zehn Dollar in den Hut und streicht ihm flüchtig über den Armrücken. Vielleicht haben Tage wie Türkis ein Zuhause, vielleicht aber auch nicht. Am Eingang eines jeden Hauses scheidet sich das Drinnen von der Außenwelt. An Tagen wie Türkis jedoch wird niemand vergessen. Oder zurückgelassen. Jeder hat sein Lächeln hübsch verpackt gleich mitgebracht und zusammen mit der kleinen Würde, hat der Tag wie Türkis seine Türe weit geöffnet und es sich im Hauseingang zum Gruße gemütlich gemacht.
Es gibt weder etwas zu versäumen, nichts zu erledigen noch etwas zu beweisen. Es zählt weder deine Position auf der Arbeit noch dein Ansehen in der Nachbarschaft und schon gar nicht wie viel Papiergeld du auf dem Konto hast. Genauso wie diese Summe nichts weiter als eine Zahl, ist es die auf der Waage schon lange. Ebenso hält es sich mit der deines Alters. Deiner Größe. Alles bloß Ziffern, kleine Nummern. Sie fallen maßlos ins Gewicht, wenn du ihnen gigantisch wenig Aufmerksamkeit schenkst, außer du willst es. Sie sind nichts weiter als Orientierungshilfen, doch in der Masse bleiben sie fremd. Wenn du dich jetzt der Behauptung hingibst, dass ich gut reden kann, dann urteilst du falsch und falsch ist nicht schlecht, nur anders. Du magst davon ausgehen, dass ich ideal und gut gebaut bin, eine optimale Figur habe, mit der ich attraktiver bin, attraktiver als du oder er oder sie. Du magst davon ausgehen, dass ich die richtigen Worte finde, mit denen ich treffender formulieren kann, treffsicherer als du oder er oder sie. Du magst davon ausgehen, dass ich Geld habe, mit dem ich es mir königlicher machen kann, königlicher als du oder er oder sie. Aber weißt du was? Du denkst zu viel.”

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