Umgekehrte Businessberatung wider Willen: publisherparadoxon

von | 04.07.2017 | 0 Kommentare

Die erste Session kommt zuletzt? Das publisherparadoxon klang von Anfang an sehr interessant. Bei der Sessionplanung am Samstag, den 24. Juni auf dem Literaturcamp in Heidelberg stellte Jan-Paul Laarmann eine besondere Session vor. Mit den Worten: “Ich gebe diese Literaturzeitschrift heraus! Alle finden sie geil, aber keiner liest sie!” hatte er mich. Ich wollte zu dieser Session und zu keiner anderen. Und diese Session war tatsächlich etwas ganz Besonderes.

20170624_125010Das weiße Cover mit dem schwarzen Streifen sieht schlicht und elegant aus. Paul hält es hoch und erzählt zunächst von sich und dieser Zeitschrift. Wenn auch ein bisschen langatmig, habe ich Verständnis dafür, dass er zunächst sich und sein Projektvorstellen möchte. Ist ja irgendwie auch ein bisschen Werbung für den Vortragenden, so eine Session mit roundabout 25 Teilnehmern.

Wie gewohnt kam ich natürlich zu spät, lief zwischen Vortragendem und Publikum nicht störungsfrei vorbei, um mir einen Platz zu ergattern, an dem ich twittern, bloggen und mitschreiben konnte. Denn in dieser ersten Session habe ich noch alles gleichzeitig gemacht; in den späteren verzichte ich auf den College-Block. Zu viel gleichzeitig!

Nun eine Tragödie vorweg: Als ich in der Session zu Benjamin Spangs Twitter-Manifest saß, habe ich meinen Blogartikel zum publisherparadoxon überschreiben. Das ist sehr ärgerlich, denn was ich geschrieben habe, war echt nicht schlecht. Aber ich habe – Glück im Unglück – noch Notizen auf Papier.

Nach der ausführlichen Selbstdarstellung wird es interessant. Meine Stimmung steigt, als Paul dieses “alle finden’s geil und keiner liest” aufgreift. Ein Exemplar der Literaturzeitschrift wird herumgegeben. Statt “Richtungsding”, wie auf dem Bild im Tweet von @JPLaarmann steht hier GNIDSGNUTHCIR drauf. Die Fragezeichen in meinen Augen werden schnell beseitigt: Die Literaturzeitschrift, die der Gute herausgibt, hat immer das gleiche Cover. Nur die Ausgabe unterscheidet sich bei den verschiedenen Zeitschriften – in Form von unauffälligen und somit verwechselbaren Buchstaben unscheinbar am Rand der Zeitschrift.

Tatsächlich ist das wohl der erste Grund, warum niemand diese Zeitschrift kauft. Ich bin gespannt, wie der Vortrag weitergeht. Denn auf der rechten Seite steht ein Flipchart, unbeschriftet. Vorbereitet ist ein Graph, der mehrere Auflagen auf der x-Achse und Verkaufs- oder Reichweitenzahlen auf der y-Achse zeigt. Die höchste Einheit auf der x-Achse ist eine Rakete mit der Beschriftung: “RAKETE!”. (Anmerkung von Zukunfts-Kia: So heißt die zu dem Zeitpunkt aktuelle Ausgabe.)

Ich erwarte also, dass Paul uns erzählt, was man alles falsch machen kann und wie er das publisherparadoxon analysiert, bekämpft und einen Raketenstart hingelegt hat. Also mache ich es wie alle anderen und lache kurz, als er sagt, dass jede Zeitschrift das gleiche Cover hat. Verdächtig ist, dass er keine neue Version auf seinem Tisch liegen hat. Warum hat Paul nur die Negativ-Beispiele dabei? Vielleicht will er uns überraschen. Ich warte ab und schreibe mit. Aber erstmal wird getwittert.

Was Paul jetzt erzählt, ist interessant. Aber lässt mich ahnen, was das publisherparadoxon nun eigentlich sein soll.
Es sei schlecht, immer nur das gleiche Cover für viele Ausgaben zu verwenden, betont Paul. In einem Nebensatz wird klar, dass er das bis heute nicht geändert hat.

Er erzählt darüber, wie die Anfänge seiner Literaturzeitschrift (wie heißt sie denn nun? Richtungsding oder GNIDSGNUTHCIR?) funktionierten. Die Verkäufe begannen wie mit Düsenantrieb.

 

Wenn der Spirit da ist, wird verkauft.

 

Paul arbeitet in seinem Brotjob im Marketing. Und fängt an, den Graph auf dem Flipchart zu bestücken. Ich bin ganz Ohr.

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Drei Linien stehen für drei messbare Größen.
Rot: Die verkauften Exemplare einer Auflage
Grün: Die Einsendungen von Autoren, die in der Zeitschrift abgedruckt werden wollen
Blau: Die Besucher (der Website?)

Die Verkäufe waren anfangs durch den Spirit vorhanden und schossen in die Höhe. Es gab da etwas Neues und Mund-zu-Mund-Propaganda sorgte dafür, dass sich das Ding ausbreitete wie ein Lauffeuer. Nach der zweiten oder dritten Auflage hat der Herausgeber eine Professionalisierung vorgenommen. Er schaltete Anzeigen, wodurch die Einsendungen rapide anstiegen. Damit stieg der literarische Wert der Literaturzeitschrift, denn Jan-Paul Laarmann konnte sich aus viel mehr Zusendungen das herauspicken, was er wollte. Die Besucher stiegen konstant an und zeigten somit, dass alles auf einem guten Weg war. Wenn da nicht dieses eine, verdammte Ereignis gewesen wäre.

Jan-Paul war nämlich plötzlich kein Student mehr. Also bekam er von einem Tag auf den anderen keine vergünstigten / kostenlosen Räume mehr für Lesungen und die Kontakte behandelten ihn ganz anders. Ab diesem Tag sinkt die rote Verkaufslinie massiv. Der Vortragende sagt, der Einbruch geschah, nachdem die Zielgruppe verfremdet war und wirft die Frage in den Raum: “Kaufen sie, weil sie uns kennen?” – genau das war das Problem, das die Exmatrikulation nach sich zog. Höchst interessant.

Ein paar Stimmen erheben sich und fragen, warum man es nicht mit einem anderen Cover versucht hätte. Warum man kein Marketing macht, wie der Vertrieb organisiert ist. Das publisherparadoxon wird tatsächlich sehr paradox. Hier sind die Antworten, die Jan-Paul Laarmann auf verschiedenste Fragen gibt:

 

“Ich will gar nicht so viel verkaufen.”

“Ich habe keinen Bock auf Vertrieb.”

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“Das ist ein sehr teures Hobby.”

“Diese Zeitschrift ist und bleib ein Zuschussgeschäft.”

“Ich möcht gar nicht erfolgreich sein.”

 

In Kombination mit den folgenden Aussagen runzle nicht nur ich die Stirn.

 

“Jede Auflage kostet etwa 1.000 Euro”

“Ich arbeite hauptberuflich im Marketing, da will ich nicht auch noch Marketing für meine Zeitschrift betreiben.”

“Wir haben 380 Twitter-Follower und keiner kauft es.”

 

Die Session wird nun umgedreht. Einige Experten bzw. Fortgeschrittene auf den Gebieten Marketing, Vertrieb, Social Media und Coverdesign ergreifen das Wort und stellen provozierende Fragen, die Paul aus dem Konzept bringen.

Sein Vortrag wird durch die Diskussion abgebrochen und es geht kontrovers und heiß her: Und Paul versucht immer wieder, sich und sein Handeln zu verteidigen, kippt aber schnell in Einsicht um. Meine Laune verschlechtert sich proportional zu den gegebenen Tipps, die das Publikum dem leicht verzweifelten Herausgeber gibt. In dieser Session schaffe ich es zu dieser Zeit, einen Beitrag auf Instagram zu veröffentlichen. Das war in keiner anderen Session der Fall.

Irgendwann ist die Zeit vorbei. Das wird durch eine herunterfallende Tasse hinter mir sehr laut deutlich. Dieses Missgeschick lockert die Stimmung sofort wieder auf. Paul entschuldigt sich bei uns für diese unfreiwillige Business-Beratung, die falschrum stattgefunden hat. Ich finde ihn prompt wieder sympathisch und habe irgendwo ein Lächeln für ihn übrig. Das publisherparadoxon hat er nicht erklären können, ich bleibe unwissend.

Zwar war das einer der interessantesten und wohl auch die schlechteste Session auf dem gesamten Literatur-Camp, aber ich bin froh, dabei gewesen zu sein. So war ich für meine eigene Session, die am Nachmittag stattfinden sollte, sehr entspannt. Bedauerlich: Wir werden wohl nie erfahren, was Jan-Paul Laarmann mit der Rakete unten rechts in seinem Graph zeigen wollte. Ich glaube nicht, dass er uns erklärt hätte, wie er den Raketenstart geschafft hat. Im Gegenteil: Ich kann mir vorstellen, dass das Wissen, das Paul aus seiner eigenen Session gewonnen hat, einen Raketenstart erst möglich macht.

Am Ende der Session kann man sich Rezensionsexemplare bei ihm abholen, beziehungsweise für fünf statt acht Euro das Stück kaufen. Ein paar Diskussionen laufen noch, während die Mehrheit den Raum verlässt. Ich bedanke mich für diese interessante Session und hoffe, Paul irgendwann wieder sehen zu können. Dann trinke ich gerne einen Tee mit ihm und spreche liebend gerne über Raketenantriebe einer Literaturzeitschrift.

Zur Website: derkritischeclaqueur.de
Zum Twitter-Profil: @jplaarmann
Literatur-Zeitschrift: Richtungsding

Alles Liebe,

Kia



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