Ein Sonntag im November – #24Autoren mit Mikaela Sandberg

von | 14.12.2017 | 0 Kommentare

Gelöschtes Kapitel aus dem Schweden-Krimi „Im Rausch“ von Mikaela Sandberg: Was nach Tuvas Rückkehr nach Malmö geschah. Willkommen im ewigen Zickenkrieg mit Nelli!

Ein Sonntag im November

Der eisige Seewind blähte Tuvas Kapuze auf und riss sie nach hinten.
Herrlich!
Minutenlang stellte sie sich vor, wie ihre Haare ihren Kopf in einer Korona aus hellblauen und rosa Strähnen umtanzten. Als wäre sie eine Tochter des Meergottes Njörd, ein Wellenmädchen, das einen Ausflug in die Menschenwelt unternahm. Das Meer brüllte und tobte, als wollte es sie mit Gewalt zurückholen. Tuva hatte sich das Gesicht mit einer dicken Schicht Fettcreme eingeschmiert, um möglichst lang hierbleiben zu können. Es bereitet ihr tiefe Befriedigung, bewegungslos am Strand zu stehen und den herandonnernden Wellen zu trotzen.
Eine Welle schwappte auf ihre Füße zu. Erschrocken sprang sie zurück, stolperte, fiel aber nicht um wie im Sommer, als sie mit David ungefähr hier gestanden und gestritten hatte. Der nasse Sand gab nur so viel nach, dass sie etwas einsank.
Eine Bewegung in den Augenwinkeln ließ sie aufschauen. Mit einem Schlag war die ganze Stim-mung im Eimer. Aus der Richtung des Restaurants „Kallbadhus“ kam Nelli Bergström-Larsson den Trampelpfad über die Dünen herunter. Sie hielt genau auf die heruntergekommene Strandhütte zu, die regelmäßig von Junkies als Treffpunkt genutzt wurde. Auf unsere Strandhütte, dachte Tuva wütend. Und ich blöde Kuh habe Nelli im Sommer auch noch mitgeschleppt, weil ich dachte, da-nach gibt sie Ruhe!
Auch Nellis Gesichtsausdruck verdüsterte sich. Sie hatte Tuva im Näherkommen erkannt. „Was machst du denn hier?“
Leider sprach sie lauter, als das Meer toste. Tuva konnte nicht so tun, als hätte sie sie nicht gehört. „Das Gleiche wie du, nehme ich an“, gab sie schnippisch zurück. „Ich gehe den Leuten nicht auf den Sack!“
„Danke für das Kompliment.“ Nelli wurde langsamer und blieb ein paar Meter von Tuva entfernt stehen. „Wie lange bleibst du?“
„Bis ich keine Lust mehr habe.“ Und mit einem gedehnten Blick auf Nelli fügte Tuva hinzu: „Könnte schon demnächst der Fall sein. Du siehst übrigens scheiße aus.“
Statt der erwarteten Retourkutsche zog Nelli schuldbewusst den Kopf ein, als hätte Tuvaihr zu Recht einen Schlag versetzt. Tuva konnte Nelli zwar auf den Tod nicht ausstehen, aber diese Geste ließ sie plötzlich Mitleid mit der Jüngeren empfinden. „Alles okay mit dir?“
„Kann dir doch egal sein“, nuschelte Nelli. Es klang alles andere als angriffslustig. „Bin doch so-wieso nur Scheiße in deinen Augen.“ Sie war in den letzten Wochen merklich auseinandergegan-gen. Ihre Augenlider schienen gerötet, ihre Gesichtshaut wirkte teigig.
„Dann hör mit dem Saufen auf. Siehst ja, wo das hinführt.“
„Und deine Drogengeschichten haben dich weitergebracht oder was?“ Da war sie wieder, die störrische Nelli!
Seufzen. „Na gut, dann sind wir jetzt eben beide hier. Ich wollte mir den Kopf freiblasen lassen. Und du?“
Betreten zog Nelli eine Bierdose aus der Jackentasche.
„Oh Mann. Okay, tu, was du nicht lassen kannst! Ich gehe so lang spazieren. Wenn ich wieder-komme …“Tuva hielt inne und überdachte das, was sie eigentlich hatte sagen wollen. „Wenn ich wiederkomme, können wir ja noch ein bisschen reden. Wenn du magst.“
Die Bierdose knackte auf, Nelli setzte sie an und nahm einen kräftigen Zug. Sie war keine gute Schauspielerin, da konnte sie sich noch so gleichgültig geben. Tuva hatte das dankbare Aufleuchten in ihren Augen trotzdem gesehen.
„Ich komm mit“, beschloss Nelli. „Wenn das für dich okay ist.“
Zu ihrem eigenen Erstaunen nickte Tuva.
Schweigend liefen sie am Wellensaum entlang, schauten den Möwen nach, hoben hin und wieder eine Muschel auf (Tuva) oder nahmen einen Schluck aus der Bierdose (Nelli).
Schließlich rülpste Nelli. „Leer.“ Prüfend wog sie die Dose in der Hand und musterte die Umgebung.
„Wehe, du wirfst sie in die Dünen“, warnte Tuvasie. „Oder ins Meer!“
Nelli verzog das Gesicht, steckte aber die Dose in ihre riesige Jackentasche.
„Kommst du öfter zum Saufen her?“ Nur nicht zu nett sein, sonst tanzt sie mir auf der Nase herum, bremste Tuva sich aus.
„Manchmal. Wenn mir alles zu viel wird.“
Klar. Sonst würde Nelli ja nicht heimlich trinken. „Was denn?“ Die Frage kam so selbstverständlich wie in der Suchtklinik Växjö: Jemand von den Mitpatienten war mies drauf, also hörte Tuva zu, ohne großartig darüber nachzudenken. Auch Nelli, ihrer Erzrivalin, würde sie zuhören, weil es anscheinend nötig war. Jetzt wunderte Tuva sich doch ein bisschen über sich selbst.
Nelli brauchte ein paar heftige Atemzüge, bis sieherausplatzte: „Alles. Die ganze Scheiße. Weil einer nach dem anderen verschwindet. Als ob das ein Fluch wäre.“
Tuva wurde langsamer und blieb stehen. „Wie? Fluch? Findest du das nicht ein bisschen, na ja, verrückt?“
Nellis Kinn zitterte vor Anspannung. Mit einem Ruck baute sie sich vor Tuva auf. „Denk doch mal nach! Vor über einem Jahr ist Liam verschwunden und …“Sie sprach es nicht aus. „Dann Tom und David. Und du. Und jetzt Rita. Ich hoffe, sie taucht bald wieder auf. Lebend.“ Den letzten Satz hatte sie geflüstert.
„Ja, und? Ich finde das zwar auch nicht schön, aber …“
„Alle waren Schüler meiner Mutter“, stieß Nelli hervor, „außer David. Aber er hing auch ständig bei uns herum. Na, was sagst du?“
„Du solltest weniger trinken und deine Verschwörungstheorien vergessen.“ Das entsprach nicht ganz dem Gesprächsstil, den Tuva sich in Växjö angeeignet hatte.
„Kann ich nicht“, fuhr Nelli sie an. „Weil … Vielleicht ist das alles Zufall, aber es gibt vielleicht noch einen anderen Zusammenhang, den ich nicht sehe, weil er was viel Größeres betrifft!“
Tuva legte den Kopf schief und musterte Nelli wie ein seltsames Insekt. „Und was sollte das deiner Meinung nach sein?“
„Keine Ahnung, vielleicht weißt du ja was.“ Hoffnung sprach aus Nellis Stimme. „Du bist im Sommer ja auch mal kurz auf Tour gewesen. Mit Tom und David. Aber du bist wieder zurückge-kommen.“
Wieder regte sich der Verdacht in Tuva, der, zusammen mit Nellis Vermutungen, geradezu un-geheuerlich wirkte. Aufgebracht packte Tuva Nelli am Jackenkragen und zog sie ganz dicht zu sich heran. Nellis Atem stank nach Bier und ungeputzten Zähnen. Bäh!
„Gib es zu, du hast immer noch Kontakt mit Tom, stimmt’s? Sonst kämest du gar nicht auf so was Abgedrehtes, dass alles mit dir und deiner Mutter zusammenhängt.“
Erschrocken bestätigte Nelli ihre Vermutung mit einem Nicken.
„Wann hast du das letzte Mal mit ihnen gesprochen?“
„V-vor drei Wochen“, stammelte Nelli. „Weil Tom mich gebeten hat, ihn auf dem Laufenden zu halten, aber ich darf eigentlich niemandem etwas …“
Zornig stieß Tuvasie von sich. Nelli landete rücklings im Sand.
„Wieso?!“, brüllte Tuva zornig und wünschte sich die Kraft des Meeres, um Nelli ordentlich ein-zutunken und dann auf die offene See hinaustreiben zu lassen. „Wieso ausgerechnet du?! Ich bin mit ihnen durch Osteuropa gefahren! Ich habe Modersson und Olofsson mit ihnen auf die richtige Spur gebracht, weil …“
Plötzlich dämmerte Tuva etwas. Nelli lag mit ihrer Vermutung richtig, dass es eine Verbindung zwischen den verschwundenen Teenies gab, von der Nelli nichts wissen konnte: Ihre Tante Uta Pieters. Die Erinnerung an die Hitze auf der Finca kam plötzlich. Daran, wie alt Tuva in dem Sommer gewesen war, erinnerte sie sich nicht. Tante Uta stand auf der Terrasse und warf lachend den Kopf in den Nacken. „Wir machen Ewgenij diese verhuschte Designerin Lillemor schmackhaft, und dann läuft die Kiste!“
„Und wir organisieren den Vertrieb für ihre Fummel“, schlug ihr wirklich verstorbener Onkel Magnus vor.
Ohne auf die damals kleine Tuva unter dem rustikalen Holztisch zu achten, besprachen sie, die Finanzierungen von Lillemors ersten Fashion Shows sicherzustellen. Möglich machten das Utas diverse Schönheitssalons, mit denen sie monatlich eine schöne Pacht erwirtschaftete und später sogar mehrfach die Tanzaufführungen von StinaBergström-Larssons Ballettschule finanzierte. Dazu kam, dass Uta und Magnus bis zu dem vorgetäuschten Unfall zusammen mit den Eltern von Tom und David jahrelang das große Rad beim Drogen- und Kinderhandel gedreht hatten. Ihre gemeinsame Sommertour, wie Nelli es nannte, war die Flucht mit Tom und David vor ihrer all-mächtigen Tante Uta Pieters und ihren Handlangern gewesen. Wie man es auch betrachtete: Überall tauchte Uta Pieters auf.
„Aber wie passen Rita und Liam da hinein?“, fragte Tuva laut. „Die haben doch nicht …“
„Weißt du etwas, das ich auch wissen sollte?“ Nellis Augen glänzten wie auf Crack.
Das Misstrauen kehrte mit einem Schlag zurück. „Und wenn es so wäre, was geht dich das an?“
Das Glänzen verwandelte sich in Tränen, die sich in Nellis Augen sammelten. „Ich sage dir, was Tom mir erzählt hat und du sagst mir, warum du im Sommer mit den beiden abgehauen bist. Deal?“
„Pustekuchen, das ist privat. Aber das, was du weißt, könnte lebenswichtig für uns beide sein. Weil …“ Nein, sie würde keine Familiendetails ausplaudern.
Nelli hielt es nicht mehr aus. „Meine Mutter hat Anzeige gegen einen Stalker gestellt. Der hat sie schon vor ein paar Jahren verfolgt, und jetzt ist er wieder da. Aber die Polizei interessiert sich nicht dafür. Ich hab Angst, dass … dass ich die Nächste bin, die verschwindet.“
„Deshalb trinkst du in letzter Zeit so viel“, schlussfolgerte Tuva.
Zögernd nickte Nelli. „Ja. Auch. Und wegen Tom. Aber nicht, weil ich in ihn verknallt wäre oder so“, schob sie hastig nach. „Er hat mir so komisches Zeug erzählt, als wir uns im Sommer hier ge-troffen haben. Du weißt schon, als du mit David rumgelaufen bist. Dass seine Familie in einem Zeugenschutzprogramm ist und sie demnächst verschwinden müssen. Und dass er deshalb nicht mit mir …“Ihre Wangen begannen zu glühen. Jetzt hatte sie sich doch verplappert.
Tuva winkte ab. „Tom interessiert mich nicht mehr. Von mir aus hättest du ihn haben können, wenn er noch da wäre.“ Dann grinste sie. „Das hat er dir echt erzählt? Ist ja lustig. Dann haben wir unsere Spritztour wirklich genau zum richtigen Zeitpunkt unternommen. Hat er dir noch was er-zählt?“
Sichtlich erleichtert schüttelte Nelli den Kopf. „Nein. Hätte er das?“
Absolut nicht, dachte Tuva zufrieden. Ihre Befürchtung, dass er vor Nelli über Tuva hergezogen war, hatte sich somit erledigt. „Und was erzählst du ihm so, wenn ihr Kontakthabt?“
„Das mit dem Stalker. Aber er nimmt das irgendwie auch nicht ernst.“ Die Enttäuschung darüber stand Nelli ins Gesicht geschrieben.
Kurz war die Versuchung groß, Nelli allein ihren Ängsten zu überlassen. Stattdessen fühlte Tuva sich mit ihr verbunden, was neu und seltsam beruhigend war. „Machdir nichts draus. Tom ist ein Idiot, der leider verdammt gut aussieht. Der würde noch nicht mal merken, was er anrichtet, wenn man es ihm auf die Handflächen tätowiert.“
Scheu grinste Nelli Tuva an.
Fröstelnd zog Tuva die Schultern hoch. „Wenndu magst, trinken wir noch was Warmes zusammen im Kallbadhus. Ich lade dich ein.“
„Okay.“
Sie waren bereits auf dem Rückweg. Im Laufen zog Nelli die leere Bierdose aus der Jackentasche, zielte auf ein Loch im Dach der heruntergekommenen Strandhütte und holte aus. Blech polterte auf Holz, dann krachte es leiser im Inneren der Hütte.
„Getroffen!“, freute Nelli sich.
Tuva verdrehte die Augen und zog Nelli weiter.
Als sie schon längst außer Sicht waren, öffnete sich einer der scheinbar vernagelten Fensterläden. Eine Hand warf die Bierdose in hohem Bogen auf den Strand hinaus.
„Soweit kommt es noch, dass der Geheimdienst die Aufgaben der Stadt Malmö wahrnimmt. Soll sich doch die Müllabfuhr darum kümmern! Wir sorgen für die Sicherheit des Landes!“
Der Fensterladen klappte zu, als wäre nichts passiert.

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